Chemische und physikalische Stimuli sind Piloten der Zelle

01.02.2023

Giorgia Del Favero untersucht das Wirken von chemischen sowie physikalischen Impulsen auf Zellen. Die im Sommer auf die Tenure Track-Professur "Toxikologie" berufene Wissenschafterin trägt mit ihrem Forschungsansatz dazu bei, die Dynamik von Erkrankungen besser zu verstehen sowie neue Modelle für die chemische Risikobewertung zu entwickeln.

Krebszellen sind ein Beispiel dafür, dass Zellen neben den bekannteren (bio-)chemischen Reizen auch physikalischen Reizen ausgesetzt sein können: Es spielt die chemische Zusammensetzung der Tumorumgebung einschließlich endogener Signalwege und Medikamente eine Rolle. Hinzu kommen die physikalischen Kräfte, die mit dem Tumorwachstum oder während des Metastasierungsprozesses entstehen. Molekulare Mechanismen, die es den Zellen ermöglichen, mit beiden Aspekten umzugehen, sind ein zentrales Thema von Giorgia Del Faveros Forschung.

Es stellt sich die Frage, wie beide Piloten zusammenarbeiten und ob ein Pilot übernehmen kann, wenn der andere ausfallen sollte.

"Um eine Parallele zum täglichen Leben zu ziehen, könnten wir es mit der Arbeit zweier Piloten vergleichen, die beide ein Flugzeug, nämlich eine Zelle, steuern können. Der eine Pilot ist die biochemische Stimulation, der andere ist die physische", sagt die Forscherin vom Institut für Lebensmittelchemie und Toxikologie. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie beide Piloten zusammenarbeiten und ob ein Pilot übernehmen kann, wenn der andere ausfallen sollte. In einem Interview spricht die Toxikologin über ihre Forschung und Herausforderungen.

Was verbirgt sich hinter Ihrem Forschungsschwerpunkt "biophysikalische Toxikologie"?
Wir wissen heute, dass Zellen sowohl auf chemische als auch physikalische Stimulation reagieren und darüber Prozesse anstoßen. Beim Kontakt mit chemischen Verbindungen wie etwa Wirk- oder Giftstoffen reagieren die Zellen meist nach dem Prinzip: je höher die Dosis, desto größer die Wirkung. Wir nehmen dieses klassische toxikologische Prinzip und entwickeln es unter Berücksichtigung der physikalischen Einflussfaktoren weiter. Darüber hinaus wollen wir klären, wie chemische Stoffe die Zellbeweglichkeit beeinflussen können, und wir suchen nach Möglichkeiten, die physiologischen Kräfte in Zellkulturexperimente zu integrieren.

Denken wir an die Darmzellen. Hier sind physikalische Reize aufgrund der notwendigen Organkontraktion, die die Darmpassage des Nahrungsbreis ermöglicht, besonders ausgeprägt. Wir konnten bereits nachweisen, dass einige Nahrungsmittelbestandteile oder Kontaminanten die biomechanischen Reaktionsmöglichkeiten der Darmzellen verändern können. Wir versuchen nun zu verstehen, wie physikalische Reize möglicherweise zur physiologischen Funktion der Darmzellen und damit zur Reaktion auf Nährstoffe oder Lebensmittelgifte beitragen können.

In einem FWF-Projekt untersuchen Sie die Entwicklung von Eierstock-Krebszellen. Welche Rolle spielt hier Bewegung?

In diesem Projekt wollen wir verstehen, ob physikalische Stimuli dazu beitragen, besonders aggressive Formen von Eierstockkrebs zu entwickeln. Unsere zentrale Hypothese ist, dass die Aggressivität des Eierstockkrebs auf die besondere biophysikalische, bewegungsintensive Umgebung in der Bauchhöhle zurückgeführt werden kann. Wir hoffen, dass unsere Erkenntnisse letztlich auch die Entwicklung neuer therapeutischer Ansätze und eine effizientere Chemotherapie begünstigen.

In der Toxikologie spricht man heute oft von einem Paradigmenwechsel. Inwiefern?

Viele klassische Methoden der Toxikologie und zur Analyse von Substanzen basieren auf Tierversuchen. Heute versuchen wir ebenfalls alternative Ansätze zu finden, z.B. mit in-silico-Screenings oder in-vitro-Zellmodellen, die dazu beitragen sollen, tiergestützte Tests zu reduzieren oder idealerweise komplett zu ersetzen. Wir versuchen hier unseren Beitrag für neue effizientere Ansätze für die Stoffbewertung zu leisten sowie weitere neue Modelle zu entwickeln, die auch die Bewegung als Faktor berücksichtigen. Natürlich soll auch hier die Qualität und die Vorhersagekraft der Daten im Vordergrund stehen. Das Ziel ist es, so hochgradig prädiktive Daten für die Humantoxikologie zu erstellen.

Was ist eine zentrale Botschaft, die Sie in der Lehre den Studierenden mitgeben?

Im ersten Moment scheint Toxikologie für einige oft nicht besonders viel mit Chemie zu tun zu haben. Doch allein beim Thema Risikobewertung von Chemikalien zeigt sich sofort der Zusammenhang. Das Risk Assessment einschließlich der toxikologischen Analysen ist eine zentrale Grundlage für Bestimmungen wie die EU-Chemikalienverordnung REACH. Chemie und Toxikologie sind komplementäre Werkzeuge, um den Umgang mit bekannten Chemikalien und auch neu entwickelten Substanzen zu definieren. So versuche ich in der neuen Lehrveranstaltung zum Thema Chemikalienrecht und -sicherheit im Masterstudium Chemie Teile dieser Konzepte den Studierenden mitzugeben.

Darüber hinaus kann die Toxikologie zur Beantwortung vieler verschiedener Fragen beitragen, z. B. im Kontext von Lebensmittelsicherheit, Nanomaterialienforschung, Umweltschutz oder Arzneimittelentwicklung. Diese Themen sind für mich sowohl in der Forschung als auch in der Lehrtätigkeit von zentraler Bedeutung.


Ass.-Prof. Giorgia Del Favero leitet die Gruppe "Biophysical Toxicology" am Institut für Lebensmittelchemie und Toxikologie und ist bereits seit 2019 Leiterin der Core Facility Multimodal Imaging. Seit Juli 2022 ist sie zudem Tenure Track-Professorin für "Toxikologie". In ihrer Forschung untersucht sie chemisch-physikalische Faktoren, die zur physiopathologischen Anpassung von Zellen führen (z.B. Darm-, Blasen-, Eierstock- und weiteren Krebszellen). Imaging & Biophysical Toxicology (univie.ac.at)

 

 

Giorgia Del Favero wurde 2022 auf die Tenure Track Professur "Toxikologie" berufen (© Giorgia Del Favero)