"Eigentlich bin ich ja Physiker. Mein Doktorat habe ich in der Molekularbiologie gemacht. Nun arbeite ich schon lange in der Chemie", erzählt Tim Grüne. Hier liegt sein Forschungsfokus auf der Kristallographie, genauer der Elektronenbeugung – mit großem Erfolg:
Grüne konnte im Vorjahr in der Fachzeitschrift Angewandte Chemie mit KollegInnen der Universität Basel und ETH Zürich zeigen, wie man mit Hilfe der Elektronen-Kristallographie die 3D-Struktur von sehr kleinen Kristallen aufklären kann. Eine zweite Studie aus den USA hatte zeitnah ähnliches publiziert. Die Entdeckung der Elektronenbeugung für die Kristallstrukturaufklärung zählte zu den Anwärtern für die Auszeichnung "Breakthrough of the Year", die die Fachzeitschrift Science jährlich vergibt.
Vorstoß in neue Dimension
Der etablierten Röntgenstrukturanalyse sind Grenzen gesetzt: Mit ihr können ForscherInnen unter den besten Voraussetzungen, also mit sehr energiereicher Röntgenstrahlung, Einkristalle zwischen 50 und 100 Mikrometer Kantenlänge charakterisieren. Kleinere Kristalle müssen nach Möglichkeit auf die untersuchbare Größe herangezüchtet werden.
"Die Elektronen-Kristallographie steckt noch in den Kinderschuhen. Aber wir haben mit unserer Publikation zeigen können, dass sie die Röntgen-Kristallographie sehr gut erweitern kann", sagt Tim Grüne, der im Vorjahr als Wissenschafter des Paul Scherrer Institutes das Projekt leitete. Mit der Elektronenbeugung "können wir Kristalle mit weniger als 1 Mikrometer Kantenlänge analysieren – also auch Kristalle, von denen bisher keine 3D-Struktur existiert".
"Gibt nicht viele Labore weltweit"
"Es gibt nicht viele Labore weltweit, besonders nicht in der chemischen Forschung, die die Elektronenbeugung nutzen." Die notwendige Infrastruktur sei dabei nicht viel kostspieliger, so Grüne, als klassische Geräte zur Röntgenstrukturanalyse. Nur würden eben noch keine vertriebsfertigen Geräte angeboten: "Unser Ziel ist es, hier an der Core Facility ein Elektronenbeugungsmessgerät für chemische Anwendungen aufzubauen und zu etablieren", sagt Facility-Leiter Grüne. Dafür kann das Team ein bereits vorhandenes Elektronenmikroskop aus der Fakultät für Physik nutzen und es mit zusätzlicher Hardware aufrüsten.
"Ich sehe mich als jemand, der Methoden bereitstellt - besonders für jene, die kein Interesse haben, in die technischen Details einzutauchen." Ihn beschäftige die Datenanalyse genauso wie er die Verantwortung für die Hardware und ihre Weiterentwicklung trage, meint Grüne: "Das hat auch den Wechsel nach Wien besonders attraktiv gemacht: Ich kann die Elektronen-Kristallographie hier weiterführen."
"Könnten viel mehr Kristallstrukturen entdecken"
Allein in der Organischen Chemie werden pro Jahr bis zu 55.000 Kristallstrukturen im Rahmen von nicht-industrieller Forschung neu entdeckt. "Dazu kommen jene neuen 3-D-Strukturen, die beispielsweise pharmazeutische Unternehmen auf der Suche nach neuen Wirkstoffen finden", so Grüne.
"Mit der Elektronen-Kristallographie könnte sich die Anzahl der entdeckten Kristallstrukturen nochmals um ein Mehrfaches vergrößern – mit großem Potenzial für Anwendungen, z.B. in der Medikamenten- oder auch Materialentwicklung". Die Kristallstruktur gibt Aufschluss, wie sich Moleküle – also auch Wirkstoffverbindungen - verhalten.
"Wenn man die Kristalle groß genug züchten kann, sollte man sie auch weiterhin mit Röntgenstrahlen untersuchen", sagt Grüne. Aber für jene Kristalle, die man nicht größer züchten kann, sei die Elektronen-Kristallographie eine Option. Auch das elektrostatische Potenzial der Verbindungen lasse sich theoretisch mit Elektronen untersuchen. Dieser Ansatz sei aber noch nicht ausgereift - er gehört zu Grünes aktuellem Forschungsfokus.
Dr. Tim Grüne studierte Physik an der TH Karlsruhe und absolvierte sein Doktorat am EMBL in Grenoble. Als Postdoc war er an der Universität Göttingen tätig, bis er 2015 als Senior Scientist ans Paul Scherrer Institut in Villingen wechselte. Seit Mitte Februar 2019 leitet er das Zentrum für Röntgenstrukturanalyse der Fakultät für Chemie an der Universität Wien.