"Wir sind heute in der Lage, im Rahmen von Präzisionsmedizin sehr zielgerichtet krankheitsbedingte Veränderungen zu diagnostizieren und therapieren", sagt Markus Mitterhauser, der vor sechs Jahren das Ludwig-Boltzmann-Institut für Applied Diagnostics mitgegründet hat und seither leitet. Der Schwerpunkt seines Institutes liegt dabei auf der Entwicklung von Radiopharmazeutika zur Diagnostik und Therapie von Prostata- und Darmkrebs und deren Kombination mit epigenetischen und genetischen Biomarkern.
Markus Mitterhauser forscht an neuen Biomarkern zur bildgebenden Diagnostik und begleitet die Validierung neuer Radiopharmaka. Dabei ermöglicht die Gammastrahlung radioaktiver Substanzen und ihr Zusammenspiel mit den veränderten Zielstrukturen (z.B. Proteinen, Enzymen, Antigenen), welche zum Tumorwachstum führen, Pathologien genauer zu bestimmen.
"Die Biomarkerforschung versucht, Krebserkrankungen wie Prostatakrebs noch früher zu erkennen. Unser Ziel ist es, die Therapie zu verbessern und Therapieregimes dahingehend zu modifizieren, dass nicht mit den härtesten Maßnahmen begonnen werden muss", so der neue Professor für Applied Diagnostics am Institut für Anorganische Chemie, wo auch bereits sein LBI-Mitarbeiter Thomas Mindt mit einer Tenure Track-Professur für Radiochemie angesiedelt ist.
Personalisierte Medizin - zu wenig personalisiert
"Die Präzisionsmedizin ist Teil der personalisierten Medizin und umgekehrt. Nur: Die personalisierte Medizin hört heute in der Regel bei der Individualisierung der Biomarker und Therapie auf. Sie achtet oft nicht auf die Person und ihre Lebensumstände und Lebensqualität bei der Auswahl der Strategien. Wir müssen hier ganzheitlicher denken."
Wir schauen uns die Prostata und Biomarker an. Wir biopsieren. Aber wir schauen uns die Person nicht an.
Als "Open Innovation"-Projekt hat daher Markus Mitterhauser "PATIO" (Patient Involvement in Oncology) ins Leben gerufen. Hier kommen Prostatapatienten und Angehörige im Rahmen von Runden Tischen und Workshops zu Wort; gemeinsam diskutiert man praktische Maßnahmen, die vor allem auch das Leben nach der Krebsbehandlung und mit ihren Begleiterscheinungen erleichtern – konkret etwa die Umsetzung einer APP "Toilet Finder", die Betroffenen bei Wegen durch die Stadt unterstützt. Die Gespräche mit Patient*innen seien ein ebenso essentieller Bestandteil seiner Forschung, so Mitterhauser.
Anbindung an universitären Kontext
Die Universität Wien ist neben der Medizinischen Universität Wien bereits akademischer Partner im noch bis Sommer 2023 laufenden LBI, das zudem mit fünf Industriepartnern kooperiert. Über die Stiftungsprofessur möchte Markus Mitterhauser seine Vision weiterverfolgen: „Hier an der Fakultät gibt es großartige Forschungsinfrastruktur und -methoden sowie Expertise in den Labs, sei es in der Organik und Anorganik, in der Analytischen Chemie oder bei NMR. An der Medizinischen Universität haben wir Arbeitstechniken, wo wir z.B. individuelle Tumorzellen in Organoiden wachsen, also einen Tumor züchten können, der die Epigenetik des Patienten abbildet, und damit für Wirkstofftestungen zur Verfügung steht.“
Es sei sinnvoll, hier die Zusammenarbeit zu pflegen und weitere Schritte „in Richtung einer durchgängigen Pipeline“ zu gehen: also die Zusammenarbeit zwischen Chemie, Radiochemie und experimenteller Nuklearmedizin zu stärken und damit auch den Weg von der Biomarker-Entwicklung bis hin zu klinischen Studien im Sinne einer angewandten Diagnostik auf ein noch breiteres Fundament zu stellen.
- First-in-Human-Studien: Der Schwerpunkt des LBI für Applied Diagnostics liegt auf der Entwicklung nicht-invasiver diagnostischer Methoden, die molekulare epigenetische und genetische Signaturen mit molekularen bildgebenden Biomarkern für PET- und SPECT-Analysen verknüpfen. Das LBI dient darüber hinaus nationalen und internationalen Forschungseinrichtung als Partner für First-in-Human-Studien und damit Erstanwendungen am Menschen, wo bereits erste Erfolge bei neuen Radiopharmaka in der Krebsdiagnostik und -therapie erreicht werden konnten. In den letzten Jahren wurde beispielsweise in Kooperation mit der ETH Zürich und einer kleinen Pharmafirma erstmalig ein neues Radiopharmakon für die Diagnostik des Nierenzellkarzinoms angewendet (DOI: 10.2967/jnumed.120.245530).
Translationale Forschung
Prostatakrebs ist nach wie vor eine weithin tabuisierte Krebserkrankung und doch die am häufigsten verbreitete unter Männern in Österreich (Ende 2019 waren lt. Statistik Austria etwa 70.000 Männer mit der Diagnose Prostatakrebs am Leben). Hier gilt es, den "chemischen Baukasten für Diagnostik und Therapie" weiter zu ergründen: "Wir haben es unverändert mit einer Wundertüte zu tun: Wir wissen viel, aber wir verstehen noch nicht, warum manche Biomarker oder Radiopharmaka bei einigen funktionieren und bei anderen aber nicht."
Gleichzeitig appelliert der Forscher, Spartendenken aufzugeben: "Es geht nicht länger um Expertise bei Prostatakrebs, Expertise bei Pankreaskrebs oder bei anderen Krebsarten." So zeigten sich etwa bei Prostatakrebs hoch exprimierte Zielverbindung, die auch bei anderen hormonabhängigen Krebserkrankungen eine Rolle spielen. Damit könnten auch die bei Prostatakrebs erprobten Radionuklide, also Positronenemitter oder Gammastrahler in der Diagnostik und Alpha- und Betastrahler für die Therapie, für andere Krankheitserscheinungen sehr interessant sein.
Univ.-Prof. Dr. Markus Mitterhauser ist seit Jänner 2022 Professor für Applied Diagnostics an der Fakultät für Chemie der Universität Wien (Stiftungsprofessur). Er approbierte als Apotheker, habilitierte in Radiopharmazie an der Medizinischen Universität Wien und war mehrfach als Gastprofessor für Radiopharmazie und experimentelle Nuklearmedizin an der Fakultät für Lebenswissenschaften der Universität Wien tätig. 2016 gründete er das Ludwig Boltzmann Institut für Applied Diagnostics.