Als Martin Karplus der Nobelpreis für Chemie verliehen wurde, wurde er gebeten, seine Arbeit in einfachen Worten zu beschreiben. „Wenn man wissen will, wie eine Maschine funktioniert, nimmt man sie auseinander“, sagte er. „Das machen wir bei Molekülen.“ Tatsächlich schuf Martin Karplus die Grundlage für die computergestützte Modellierung chemischer Prozesse, die heute unverzichtbar für das Verständnis von Biomolekülen wie Proteinen, DNA, RNA und Zellmembranen ist.
Wien war die erste Station seines Lebensweges, doch der Abschied von seiner Heimatstadt war unfreiwillig: Nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 floh die Familie zunächst in die Schweiz und schließlich in die USA, wo sie sich in der Region Boston eine neue Existenz aufbaute. Entgegen der Familientradition – beide Großväter waren Ärzte, darunter der Neurologe Johann Paul Karplus, Professor an der Universität Wien – schlug Martin Karplus keine medizinische Laufbahn ein. Sein Interesse galt den biologischen Prozessen, die dem Leben zu Grunde liegen, und er erkannte bald, dass diese nur über die dabei ablaufenden chemischen und physikalischen Vorgänge verstanden werden können. Er entwickelte einen Denkansatz, der über die Fächergrenzen hinausging und die Disziplinen miteinander verband.
Nach seiner Dissertation am California Institute of Technology bei dem späteren zweifachen Nobelpreisträger Linus Pauling und einem Forschungsaufenthalt in Oxford erhielt Karplus seine erste akademische Stelle an der University of Illinois. 1959 entwickelte er die nach ihm benannte „Karplus-Gleichung“, die es erstmals ermöglichte, aus mit Kernresonanzspektroskopie ermittelten Daten die räumliche Struktur von Molekülen abzuleiten. Nach einer weiteren Station an der Columbia University kehrte Martin Karplus 1966 nach Harvard zurück. Dort widmete er sich der Entwicklung von Rechenmethoden und Modellen zur Untersuchung der molekularen Dynamik biologischer Prozesse. Das 1983 veröffentlichte Computerprogramm Chemistry at Harvard Macromolecular Mechanics (CHARMM) zur Simulation molekularer Bewegungen wird bis heute kontinuierlich weiterentwickelt und genutzt – auch am Institut für Computergestützte Biologische Chemie der Universität Wien.
Für seine bahnbrechenden Beiträge zur Entwicklung von Multiskalen-Modellen komplexer chemischer Systeme wurde Martin Karplus 2013 gemeinsam mit Arieh Warshel und Michael Levitt mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet. 2015 ehrte ihn die Republik Österreich mit dem Österreichischen Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst, und die Universität Wien verlieh ihm auf Initiative der Fakultät für Chemie das Ehrendoktorat. Zu diesem Anlass wurden auch ausgewählte Reisefotografien des leidenschaftlichen Fotografen ausgestellt. Im August des vergangenen Jahres wurde Martin Karplus schließlich mit dem Großen Goldenen Ehrenzeichen am Bande für Verdienste um die Republik Österreich ausgezeichnet, einer der höchsten Ehrungen des Landes.
Dem Verfasser dieses Nachrufs sei folgende persönliche Anmerkung gestattet: 1990 ging ich als Doktorand nach Harvard, um bei einem der besten theoretischen Chemiker zu lernen. Martin Karplus wurde für mich tatsächlich zu einem wissenschaftlichen Mentor. Wie viele andere „Karplusianer“ habe ich mich mehr als einmal gefragt: Wie würde Martin diese Fragestellung angehen? Aber fast noch wichtiger war für mich, dass ich ihn in all den Jahren, in denen wir in Kontakt blieben, als einen vielseitig interessierten Mann kennen und schätzen gelernt habe, der sowohl als Wissenschaftler als auch als Mensch ein Vorbild war.
An den Beginn seiner Nobelpreisrede stellte Martin Karplus ein Zitat von Ralph Waldo Emerson: Gehe nicht, wohin der Weg führen mag, sondern dorthin, wo kein Weg ist, und hinterlasse eine Spur. Martin Karplus hat mit Sicherheit eine bleibende Spur hinterlassen, in der Wissenschaft, und im Leben seiner Kollegen und Schüler.
Ein Nachruf von Stefan Boresch.