Späte Ehre für einen Exil-Österreicher: Martin Karplus erhält höchste Auszeichnung der Republik

Der amerikanische Chemienobelpreisträger mit österreichischen Wurzeln wurde am 16. August 2024 mit dem Großen Goldenen Ehrenzeichen am Bande für Verdienste um die Republik Österreich ausgezeichnet. Die Verleihung erfolgte durch die österreichische Botschafterin in den USA im Rahmen einer Feier in Cambridge, Massachusetts.

Martin Karplus wurde am 15. März 1930 in Wien in eine großbürgerliche jüdische Familie geboren. Beide Großväter waren Ärzte: Samuel Goldstern leitete ein bekanntes Wiener Sanatorium, der Neurologe Johann Paul Karplus war Professor an der Universität Wien. Zur Verwandtschaft gehörten auch der Chemiker Adolf Lieben und der Physiker Robert von Lieben. Die Wohnung der Großeltern von Martin Karplus befand sich im Palais Lieben-Auspitz am Ring mit Blick auf das direkt gegenüberliegende Universitätsgebäude. Auch für Martin Karplus hatte die Tradition eine Karriere in die Medizin vorgesehen. Der Einmarsch der Wehrmacht und der Anschluss Österreichs an Deutschland zerstörten diese Welt für immer. Die Familie entschloss sich rasch zur Flucht, der Vater durfte Österreich aber erst nach langer Haft und Überschreibung des gesamten Familienvermögens an die nationalsozialistischen Machthaber verlassen. Über die Schweiz und Frankreich gelang die Emigration in die USA, wo sich die Familie Karplus im Großraum von Boston eine neue Existenz aufbauen musste.

Als Martin Karplus 1947 an der Harvard University zum Studium zugelassen wurde, galt sein Interesse zunächst der Biologie. Aber um biologische Phänomene zu verstehen –  so der Nobelpreisträger 2017 in einem Interview mit der Harvard Gazette –, muss man deren chemische Ursprünge verstehen. Karplus belegte ein Studienprogramm für Chemie und Physik und besuchte zusätzlich Lehrveranstaltungen der Biologie. Das Doktorat in Chemie erwarb er am California Institute of Technology bei dem späteren zweifachen Nobelpreisträger Linus Pauling.

Nach einem Forschungsaufenthalt in Oxford erhielt Karplus seine erste Stelle an der University of Illinois. Hier entwickelte er die 1959 publizierte „Karplus-Gleichung“, durch die den meisten Chemikern und Chemikerinnen der Name Karplus vertraut ist. Diese ermöglichte es erstmals, aus mit der Kernresonanzspektroskopie gemessenen Daten die räumliche Struktur von Molekülen zu ermitteln. 1960 folgte der Wechsel an die Columbia University. Martin Karplus hatte sich bereits einen Namen als herausragenden theoretischer Chemiker gemacht und konnte aus zahlreichen Angeboten wählen, als er sich 1966 entschloss, den Ruf der Harvard University anzunehmen, wo er bis heute, inzwischen emeritiert, tätig ist. Seit 1995 bekleidet Martin Karplus auch eine Stelle am Institut de Science et d’Ingénierie Supramoléculaires an der Universität Straßburg. Noch 2019 warb er einen hochdotierten Grant der Gates Foundation zur Entwicklung eines universellen Grippeimpfstoffs ein.

If I had stayed in Vienna, if there hadn’t been Hitler, probably I would’ve gone to the University of Vienna and been a reasonable scientist. But I wouldn’t have had quite the push to do something special that was given to me by having to leave Austria and immigrate to the United States.

Martin Karplus, The Harvard Gazette 2017

Seine Forschung in Harvard war geprägt von dem Bemühen, theoretische Chemie und Biologie zu verbinden, um die molekularen Dynamiken hinter wesentlichen biologischen Prozessen zu erforschen. Gegenstand seiner Untersuchungen waren unter anderem die chemischen Abläufe im Auge beim Sehen, beim Sauerstofftransport im Blut oder bei der Proteinfaltung. 2013 wurde Martin Karplus gemeinsam mit Arieh Warshel und Michael Levitt für die Entwicklung von Multiskalen-Modellen komplexer chemischer Systeme ausgezeichnet. Diese Modelle sind heute in der Forschung unverzichtbar für das Verständnis des Verhaltens von Biomolekülen wie Proteinen, DNA, RNA, oder Zellmembranen. Die Quantenmechanik würde zwar im Prinzip die exakte Beschreibung aller Wechselwirkungen in und zwischen Molekülen erlauben, aber auch heute ist die Lösung der dafür notwendigen Gleichungen zu aufwendig, um praktisch durchführbar zu sein. Daher sind näherungsweise hierarchische Beschreibungen der wirkenden Kräfte essenziell.

In seinem Nobelpreisvortrag betonte Martin Karplus als seine bedeutendsten Forschungsleistungen das Studium der Reaktionskinetik von H2 + H → H + H2 mittels Molekulardynamiksimulation, die Entwicklung eines frühen Modells der Proteinfaltung (Diffusion-Collision Modell), sowie die Anwendung und Weiterentwicklung von Molekulardynamik zum Studium von Biomolekülen. Die Erkenntnis, dass eine klassisch mechanische Beschreibung atomarer Bewegung in den meisten Fällen ausreicht, ist der Schlüssel zur Simulation der Dynamik komplexer Systeme, einschließlich Biomolekülen. Die von Martin Karplus entwickelten Methoden haben die Voraussetzungen geschaffen, um z.B. in der Medikamentenentwicklung die molekularen Wechselwirkungen zwischen dem (potenziellen) Wirkstoff und dem entsprechenden Rezeptor verstehen zu können.

Auch Österreich erinnerte sich an den vertriebenen Chemiker. 2015 wurde Martin Karplus von Bundespräsident Heinz Fischer mit dem Österreichischen Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst ausgezeichnet. Die Universität Wien, an der Karplus unter besseren historischen Vorzeichen studiert hätte, verlieh ihm auf Initiative der Fakultät für Chemie das Ehrendoktorat. Dekan Bernhard Keppler würdigte in seiner Laudatio die Verdienste des „Ausnahmewissenschaftlers“ Martin Karplus als Forscher, Lehrer und Mentor.

Martin Karplus ist auch begeisterter Fotograf, eine Auswahl seiner Reisefotografien wurde 2013 in der Ausstellung „La Couleur des années 1950“ in der Bibliothèque nationale de France und anlässlich des Ehrendoktorats auch  an der Universität Wien gezeigt. An den Beginn seiner Nobelpreisrede stellte Martin Karplus das Zitats des amerikanischen Philosophen und Schriftstellers Ralph Waldo Emerson: Gehe nicht, wohin der Weg führen mag, sondern dorthin, wo kein Weg ist, und hinterlasse eine Spur. Es ist nicht selbstverständlich, dass Martin Karplus schließlich auch den Weg zurück nach Österreich eingeschlagen hat.

Die Fakultät für Chemie und die Universität Wien gratulieren Martin Karplus herzlich zur längst überfälligen Auszeichnung durch die Republik Österreich.

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